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oeffentlich:25jahre:leitsaetze_und_erziehungsprinzipien

VII. Leitsätze und Erziehungsprinzipien

leitsaetze_und_erziehungsprinzipien.pdf

(Art. 3 des Vertrages vom 1./4. November 1921.)

Leitsätze und Erziehungsprinzipien der Siedelungsgenossenschaft Freidorf

I. Allgemeine Grundsätze

Zweck der Siedelung.

1. Als Zweck der Siedelungsgenossenschaft «Freidorf» wird im Art. 1
ihres Grundgesetzes bestimmt: Die Förderung der sozialen Wohl-
fahrt und die Verbesserung der Lebenshaltung ihrer Mitglieder.

ökonomische und ideelle Ziele.

Politische und konfessionelle Neutralität.

2. Ausser durch die ökonomischen Anstalten und Einrichtungen der
Genossenschaft sucht sie ihre Zwecke auch auf ideellem Wege zu
erreichen, und um ihr hierfür die unbedingt erforderliche Selbstän-
digkeit und Unabhängigkeit zu sichern, ist in § 6 des Grundge-
setzes erklärt: Die Genossenschaft ist parteipolitisch und konfes-
sionell neutral und schliesst agitatorische Bestrebungen dieser Art
in ihrem Kreise und auf ihrem Boden aus. Wie sie anderseits das
Recht der persönlichen Meinungsäusserung ihrer Mitglieder in
keiner Weise beeinträchtigt, so hält sie für diese und die Organe
der Genossenschaft an der freien und vollen Entwicklung der dem
genossenschaftlichen Gemeinschaftsleben wesentlichen Prinzipien
fest.

Gemeinschaftssinn und -geist.

3. In Entwicklung der Prinzipien des genossenschaftlichen Gemein-
schaftslebens lassen sich für unser Dorf folgende allgemeine Grund-
sätze heraussteilen:

a) Soll unsere Siedelungsgenossenschaft «Freidorf» ihr höchstes
Ziel erreichen: eine wahrhaft genossenschaftliche Gemeinschaft
in sich zu entwickeln und für die weitere vertiefte und einheit-
liche Gestaltung der schweizerischen konsumgenossenschaft-
lichen Bewegung vorbildlich zu wirken, so muss sie aus sich
heraus und unter Mitwirkung aller ihrer Glieder einen leben-
digen Gemeinschaftssinn erzeugen.

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b) Gemeinschaftssinn oder -geist kann nicht hervorblühen aus
blossem äusserem Nebeneinanderwohnen.

c) Gemeinschaftssinn und Gemeinschaftsgeist müssen vom Inner-
sten her, aus jeder Siedlerseele auf dem Gründe geistiger Frei-
heit geweckt und stetig gesteigert werden.

Sozialpädagogische Erziehungsgrundsätze Heinrich Pestalozzis als Grundlage.

d) Der innere Aufbau unserer Siedelungsgenossenschaft — so
wurde bei den Gründungsverhandlungen und -Versammlungen
wiederholt erklärt und festgelegt — soll beruhen auf den sozial-
pädagogischen Erziehungsgrundsätzen Heinrich Pestalozzis.

Veredelungsfähigkeit des Menschen. — Liebeskraft.

e) Die Pestalozzische Erziehungslehre gründet sich auf den Glau-
ben an die Veredelungsfähigkeit des Menschen, an dessen
höhere sittliche und geisige Keimanlagen sie anknüpft. Im übri-
gen folgt ihre Methode den organischen Bildungsgesetzen der
Natur und ist auf die naturgemässe Entfaltung aller Anlagen
und Kräfte des Menschengeschlechtes gerichtet. Ihr schöpfe-
risches Prinzip ruht in der jeder Seele eingeborenen Liebes- und
Glaubenskraft, die erweckt und in Tätigkeit gesetzt werden soll.

Der einzelne Mensch.

f) Im Mittelpunkt der sozialen Erziehungslehre Pestalozzis steht
der einzelne Mensch, der zu kraftvoller Selbständigkeit und
Selbsttätigkeit und durch diese für die verschiedenen engeren
und weiteren Formen menschlichen Gemeinschaftslebens gebildet
werden soll.

Engste und innigste Gemeinschaft: Familie — Haus — Wohnstube.

g) Der organischen Grundauffassung gemäss verankert Pestalozzi
sein soziales Erziehungswerk in der Familie, als der natürlichen
Zelle aller gesellschaftlichen Entwicklung. Sie ist ihm die zu-
gleich engste und innigste Gemeinschaft, in der sich das sittlich-
gesellige und gemeinwirtschaftliche Verhältnis von Mann und
Frau, von Vater und Mutter, von Eltern und Kindern, von
Geschwistern zu Geschwistern ordnet. Als räumlicher Mittel-
punkt dieser natürlich-elementaren Gemeinschaft erscheint dem-
gemäss Haus und Wohnstube, worin der Familiengeist webet und
waltet. Alle Glaubens- und Liebeskräfte wurzeln sich fest in
diesem «heiligen Kreis», in ihm liegt das Fundament aller
Herzensbildung als der Grundlage jeder echten Volkskultur.

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Hausgenossen. — Nachbarschaft.

h) Von diesem ersten und innersten Zentrum dehnt sich der Kreis
aus, umfasst die nächsten Hausgenossen, die Nachbarschaft und
schliesslich die Gemeinde, deren Organisation, Bau und Leben
das Pestalozzische Erziehungswerk familienhaft zu beseelen
sucht.

Gemeinde.

i) In der Gemeinde, und zwar in der kleinen übersichtlichen Ge-
meinde, erblickt Pestalozzi neben der Nachbarschaft den der
Familie am nächsten stehenden weiteren Kreis menschlicher
Gemeinschaftsformen, in dem noch alltägliche Nähe und un-
mittelbare Beziehungen der Menschen untereinander bestehen
und erhalten werden können.

Alle grösseren Kreise, die sich bilden, umschliessen konzen-
trisch die drei Grundkreise von Haus und Familie, von Nach-
barschaft und Gemeinde, bewegen sich aber nicht mehr in dem
Verband der unmittelbaren nahen Beziehung, in dem Sinne des
kleinen Kreises, in dem allein der Mensch sich wahrhaft bilden
kann.

Schule und Schülergemeinde.

k) Die geistige Brücke, welche die natürlichen kleinen Kreise mit
den grösseren Gemeinschaftsgebilden verbindet, ist die Schule,
die ihre Wurzel wiederum in der familienhaften Elementar-
bildung (dem ABC der familienhaften Lebensführung) hat. Die
dem Geiste der Familienorganisation nachgebildete Schule steht
in umfassender Wechselbeziehung zu Haus und Wohnstube. Aus
der organischen Verbindung beider erwächst das grosse
schöpferische Kunstwerk der umfassenden sozialen Erziehung
von Kind und Volk.

Die Schule selbst wird Schulgemeinde und stellt sich schon
in ihren elementarsten Formen als Arbeits- und Verwaltungs-
gemeinschaft dar. Der «Idee der Elementarbildung» gemäss steht
sie in engster Verbindung mit dem Familien- und Gemeindeleben,
und ihre Doppelaufgabe ist, den jungen, heranwachsenden
Menschen zum wahren Menschen, Berufs- und Gemeinde-
genossen zu bilden.

Wecken und Entwickeln der sittlichen, geistigen und physischen Kräfte.

l) Der Bildungsgang erstreckt sich auf alle sittlichen, geistigen
und physischen Kräfte, die, alle gleich wichtig, durch die fünf
Hauptprinzipien der Pestalozzischen Erziehungsmethode geregelt
werden.

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II. Die fünf Hauptprinzipien der Erziehungsmethode Pestalozzis

Individualität — innere Kraft.

1. Das erste Prinzip geht auf die Feststellung, Erkenntnis und Wer-
tung der menschlichen Individualität, d. h. der eigenartigen Kräfte,
die jeder Mensch als Keimanlagen für die Entwicklung seiner Per-
sönlichkeit mit in die Welt bringt. Sie sind nach der Lehre Pesta-
lozzis Urkräfte, die zu der göttlichen Schöpferkraft in nächster
Beziehung stehen, unter sich eine natürliche Einheit bilden und in
dieser Einheit die individuelle Gemeinkraft oder das eigentliche
Wesen der Individualkraft begründen. Die Erweckung, die höhere
Belebung, Steigerung und möglichst vollkommene Gestaltung dieser
Individualkraft steht im Mittelpunkt des Erziehungswerkes Pesta-
lozzis und seiner methodischen Bildungsmittel. Grundsatz: Ohne
Individualkultur keine tragfähige Gewissenskultur, keine wahre
Selbstsorge (Selbsthilfe) und keine segensreiche Gemeinsorge (Ge-
meinhilfe).

Innere und äussere Anschauung. — Gesetz der physischen Nähe.

2. Das zweite Prinzip umfasst die elementaren Bildungskreise und
Bildungsmittel, welche nach dem Gesetz der nahen Beziehung die
innere und äussere Anschauungswelt des Menschen von der Wiege
bis zum Grabe bestimmen. Anschauung ist das Fundament aller
Erkenntnis, und jede Erkenntnis muss von der Anschauung aus-
gehen und auf sie zurückführen. Gegenstand der inneren An-
schauung ist das eigene Selbst (Selbsterkenntnis, Willens- und Ge-
wissensbildung) und seine Beziehung zu den höchsten Dingen,
Gegenstand der äusseren Anschauung die Umwelt des Menschen.
Alle Anschauungsbildung geht von den nächsten Verhältnissen aus.
In der unmittelbaren Anschauung werden die Kräfte des Geistes
intensiv erhöht. Wahrheit, die klar und deutlich der Anschauung
entquillt, steigert die Kräfte des Menschen und befähigt sie zu
schöpferischer Tat. Das Gesetz der physischen Nähe, wonach alles
sich klarer und deutlicher enthüllt, je unmittelbarer es die Sinne
berührt, bestimmt das Positive der Anschauung, die geistige Hebung,
die sittliche Haltung und Vervollkommnung, die Berufsbildung und
das kraftvolle Tatleben des Menschen. Das «hohe Gesetz der
Natur», vermöge dessen sich das Nähere immer stärker einprägt als
das Fernere, beherrscht die ganze Erziehungslehre Pestalozzis.

Stufenmässige Bildung.

3. Das dritte Prinzip ist das der allmählich aus den Anfängen fort-
schreitenden elementarisch-stufenmässigen Bildung und Ausbildung.
Wie in der Natur soll Schritt für Schritt vorgeschritten werden, in

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ruhiger Entwicklung und ohne Sprünge soll das eine aus dem
andern folgen. Alles weitere Leben schliesst sich an die gesicherte,
in sich vollendete Form des Alten an, ist Fortbildung und steht bis
zur letztmöglichen Vollendung mit dem Anfang im Zusammenhang.
Solide, lückenlose Grundlegung, einheitliche Zusammenfassung der
Bildungselemente und stete Übung der Kräfte in langsamer Ent-
wicklung von Stufe zu Stufe, Bewahrung vor Frühreife, vor Hast
und Ungeduld ist das Gesetz dieses Prinzips.

Gleichgewicht der Kräfte.

4. Das vierte Prinzip bestimmt und regelt das Gleichgewicht der Kräfte.
Die sittlichen, die geistigen und die physischen Kräfte, die Herzens-,
Geistes-, die Hand- und Kunstkräfte sollen durch alle Stufen hin-
durch derart gleichmässig ausgebildet werden, dass in keiner Be-
ziehung eine irgend nachteilig überwiegende Kraftenergie sich vor-
zudrängen und das gesunde Kraftverhältnis zu stören vermag. In
der grösstmöglichen Vollendung aller Kräfte zeigt sich das Wesen
der harmonischen Gemeinkraft. Im Gleichgewicht seiner Kräfte ist
der Mensch ein in sich harmonisches Wesen und imstande, selbst
bei einem Minimum äusserer Mittel ein Maximum von Leistungs-
fähigkeit und Wohlstand zu erzielen. Höchste Not befördert die
Bewegung zu diesem Gleichgewichte hin. Auch die reinste Liebe
ist ausgleichende Gleichgewichtskraft. Das soziologische Ziel der
Gleichgewichtskultur ist der Indifferenzpunkt eines gesellschaftlichen
Mittelstandes, der zugleich den Punkt der grössten Näherung von
Mensch zu Mensch und von Stand zu Stand bezeichnet. Es ist dies
das Wesen einer unkomplizierten, konzentriert-einfachen und ein-
heitlichen Volkskultur, wie sie V. A, Huber als Ziel der Genossen-
schaftsbewegung vorschwebte.

Gemeinkraft. — Führungsidee.

5. Das fünfte Prinzip ordnet das Verhältnis des Einzelnen zum Gemein-
schaftsleben. Pestalozzi will in dem Einzelmenschen alle Kräfte aus-
lösen, steigern, harmonisch bilden und in schöpferische Selbsttätig-
keit setzen, um dadurch die höchsten und stärksten Kräfte sowohl
für die Selbstversorgung (Selbsthilfe) als auch für die Bildung des
Gemeinschaftslebens zu erhalten.

In ihrer Entfaltung setzt sich in dem Erziehungswerk Pesta-
lozzis wohlgebildete Individualkraft immer in soziale Gemeinkraft
um. Gemüt und Geist des Menschen sollen für die andern und
insonderheit für seine Nächstenmenschen einfach, natürlich und
herzlich in Bewegung gesetzt werden. Das Ziel dieser und der aus
der Erziehung resultierenden Bewegung ist die grösstmögliche Voll-
endung der sozialen Gemeinkraft und die Bildung von Gemein-

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schäften, in denen sich der Geist der Urgenossenschaft, der Familie
spiegelt. Der Mensch vollendet sich selbst nur in der Vollendung
seiner Brüder.

Mutterliebe, Vater-, Bruder- und Schwestersinn sollen über das
Haus hinaus auch in den weiteren Gemeinschaften sich als allzeit
lebendige Kräfte bewähren. Die Elternidee erweitert sich zur gesell-
schaftlichen Führungsidee. Die Führer und Führerinnen der Gemein-
schaften und Gemeinden, wie schliesslich auch die Leiter des
weitesten Kreises fühlen sich und handeln als geistige Väter und
Mütter. So erscheint in Pestalozzis «Lienhard und Gertrud» das
Ideal der Dorfführung. Der Familiensinn, die Kraft der recht ge-
richteten Mütter, Väter, Kinder und Geschwister ist eingezogen
in die Gemeinde und die Gemeinde selbst erscheint als Genossen-
schaftsfamilie oder als Familiengenossenschaft.

III. Das genossenschaftliche Gemeinschaftsideal in Theorie und Praxis und seine Anwendung in der Siedelungsgenossenschaft „Freidorf"

Widerspiegelung der Genossenschaftsidee in Pestalozzis Erziehungswerk.

1. In dem sozialpädagogischen Erziehungswerke Pestalozzis spiegelt
sich die Genossenschaftsidee in ihrem reinsten Wesen, woraus sich
auch erklärt, dass sich die bedeutendsten Genossenschaftstheore-
tiker bewusst oder unbewusst in den Gefühls- und Gedankenkreisen
Pestalozzis bewegen, dass die aufmerksamsten Genossenschafts-
praktiker aus der Erfahrung heraus zu den wichtigsten Grundsätzen
Pestalozzis gelangten, und dass anderseits Pädagogen, die, wie z. B.
Paul Natorp, das Wesen und die Tragweite der Prinzipien des
Pestalozzischen Erziehungswerkes gründlich erfassten, dieselben mit
der Genossenschaftsbewegung in engste Beziehung gebracht haben.

2. Durch William King, Mazzini, V. A. Huber, Vansittart Neale, teil-
weise auch durch die Schule Fouriers, durch Heinrich Zschokke,
Collin-Bernoulli und durch einige zeitgenössische Genossenschafts-
pioniere sind Pestalozzische Erziehungs- und Organisationsprinzi-
pien in die Genossenschaftstheorie und die Genossenschaftspraxis
gebracht worden. Es fehlt aber noch eine genaue, in die Besonder-
heiten des genossenschaftlichen Organisationswerkes gehende Über-
tragung der sozialpädagogischen Elementarbildungsidee Pestalozzis.

Der in sich geschlossene Kreis als Vorbedingung der Übertragung der Genossenschaftstheorie in die Praxis.

3. Die volle Übertragung und Anwendung auf die Genossenschafts-
theorie und die genossenschaftliche Praxis kann zunächst nur in

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einem in sich geschlossenen Kreise, in dem die Vorbedingungen für
die experimentelle Erfassung aller wesentlichen Prinzipien gegeben
sind, verfolgt werden.

Freidorf, ein solcher Kreis.

4. Dies soll in der Siedelungsgenossenschaft «Freidorf», im Rahmen
dieses Siedelungswerkes, versucht und nach Massgabe der schon
vorhandenen und der aus dem Erziehungswerke selbst erwachsen-
den Kräfte Schritt für Schritt durchgeführt werden.

Sparorganisation — Gertrudgruppe — Genossenschaftsschule.

5. Ansätze zu diesem Erziehungswerk sind teils bereits in den be-
stehenden Kommissionen, teils in einigen Einrichtungen wie das
Sparorganisationswerk und die Gertrudgruppe, gegeben. Andere
sollen folgen und eine der nächsten Aufgaben muss die Errichtung
und der experimentelle Betrieb einer Genossenschaftsschule für
die Jugend sein, die neben der dem staatlichen Reglement unter-
stellten Gemeindeschule zunächst in einfachsten Formen organisiert
und in möglichster Wechselbeziehung mit der obligatorischen Schule
unterhalten und entwickelt werden sollte, wiederum nach Massgabe
der vorhandenen Kräfte und in intensivster Ausnützung von Zeit
und Gelegenheit. In einer solchen Schule könnte das junge Volk
der Siedelungsgenossenschaft nach den Prinzipien der Pestalozzi-
schen Elementarbildung für das genossenschaftliche Leben und
Wirken erzogen werden. Ansätze dazu sind bereits in dem Hofwyler
Erziehungsstaat gemacht worden. Die dort beobachteten Methoden
sollten von uns aufgenommen und mit den fruchtbarsten Ergeb-
nissen der neuesten sozialpädagogischen Bestrebungen dieser Art
kombiniert werden.

Erzieherische Dauerorganisationen durch Gruppenbildung.

6. Unumgängliche Voraussetzung dieses genossenschaftlichen Jugend-
bildungswerkes sind Erziehungs- und Arbeitsgemeinschaften wie die
Gertrudgruppe, der eine entsprechende Männergruppe angegliedert
werden soll. Nur in der Dauerorganisation solcher Gruppen, die
nach methodischen und einheitlichen Prinzipien geleitet werden,
können aus dem Schosse der Siedelungsgemeinde selbst väterliche
und mütterliche Lehrkräfte für die Durchführung des genossen-
schaftlichen Jugendbildungswerkes gewonnen werden, wie überhaupt
zuverlässige Helfer für jeglichen Gemeinschaftsdienst im höheren
Sinne daraus erwachsen sollen. Es ist selbstverständlich, dass auch
die Mitglieder der bestehenden Kommissionen sich in diese erziehe-
rische Gruppenorganisation freiwillig und in regelmässiger Teil-
nahme einordnen sollten, denn nur so kann eine einheitliche Ein-

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sicht und ein einheitlicher Geist erzeugt werden. Der rechte ein-
heitliche Geist und die rechte einheitliche Stimmung wird sich aus
der richtigen, klaren und vollen Erfassung der fünf Hauptprinzipien
des Pestalozzischen Erziehungswerkes ergeben. Ihr volles, durch
praktische Übung vertieftes und befestigtes Verständnis muss das
Lehrziel des genossenschaftlichen Jugenderziehungswerkes sein und
bleiben.

Einheitsgeist.

7. Dies soll auch den Einheitsgeist hervorbringen und sichern, dessen
die genossenschaftliche Bewegung, auf deren Boden und mit deren
Mitteln wir arbeiten, zur volleren Entfaltung der in ihr wirkenden
Kräfte dringend bedarf und ohne den sie in die chaotischen Wirren
dieser Zeit gerissen und darin ihren Weg wie ihr Ziel verlieren
würde.

Siedelungsidee der Ausgangspunkt der konsumgenossenschaftlichen Bewegung.

8. Der Ausgangspunkt der konsumgenossenschaftlichen Bewegung war
die Idee des Siedelungsgenossenschaftsexperimentes, dessen theore-
tische Richtlinien in der Genossenschaftslehre William Kings und
V. A. Hubers vorgezeichnet und nach den Pestalozzischen Prinzipien
orientiert sind. In der praktischen Gestaltung der Dinge schälte sich
zunächst nur der Konsumverein mit den verschiedenen Formen
seiner Verbandsorganisation heraus. In der Verwirklichung des
genossenschaftlichen Vollideals sind die Konsumvereine i n den
Anfängen stehen geblieben, indem sie sich hauptsächlich auf die
wirtschaftliche Selbsthilfe durch Organisation der Konsumkraft,
durch Sammlung der Sparkräfte und durch Versuche in der ge-
nossenschaftlichen Produktion beschränken, hiefür wohl die höch-
sten Entwicklungsziele ins Auge fassten, aber die hiezu erforder-
lichen erzieherischen Massnahmen kaum in Angriff nahmen und
jedenfalls keine streng methodische Schulung in Theorie und Praxis
betrieben.

Mehr und mehr zeigt es sich, dass die volle Erfassung der
Verbrauchs- und Sparkraft der Masse und die Vorbereitung zur
erfolgssicheren genossenschaftlichen Produktion ohne intensive in-
dividuelle erzieherische Arbeit nicht zu erreichen ist, jede vollere
Entwicklung aber nun den Regress auf den kleineren Organisations-
kreis fordert, in dem allein wirkliche Erziehung und reine Selbst-
verwaltung möglich ist, während alles, was nur durch grösseres und
weiteres Zusammenwirken erlangt werden kann, auf dem Wege des
föderalistischen Zusammenschlusses, der kleineren Organisations-
Kreise zu erstreben ist. Dies ist der wahre Weg des Genossen-
schafts-Sozialismus, und auch der einzige, der zu einer freiwilligen

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Einheit aller sozialen Bestrebungen führen kann, die für den vollen
sozialen Aufbau des genossenschaftlichen Organisationswerkes in
Betracht kommen.

Wegerkenntnis.

9. Der Weg ist erkannt, er muss nur in allen Dingen eingeschlagen
und tatkräftig verfolgt werden.

«Soll unser Verband — erklärte unser Genossenschaftspionier
J. Fr. Schär in seiner Churer Präsidialrede (1898) — ein vater-
ländischer Bund des Genossenschaftswesens, ein Bund der Träger
des wirtschaftlichen Idealismus, ein Bund zur Förderung der allge-
meinen Interessen des Volkes werden, so müssen wir uns stets
bewusst bleiben, dass die lebendige Kraft des Verbandes nicht von
einem oder von einigen wenigen Punkten aus in die Glieder strömt,
sondern dass sie in allen unsern Verbandsvereinen eine Urquelle
haben muss. Das gerade bildet eine der vornehmsten Eigenschaften
des Genossenschaftswesens, dass die lokale Selbstorganisation zur
Grundbedingung des Gedeihens des Ganzen gehört. Die genossen-
schaftliche Verbindung kann nur bestehen, wenn die einzelnen
Glieder erstarken, wenn in jeder Gemeinde sich ein wirtschaftlicher
Zentralpunkt bildet; natürlich bedarf diese gemeindeweise Organi-
sation des Genossenschaftswesens einer kräftigen Zentrale, an
welcher die einzelnen Glieder ihren starken Rückhalt finden.»

In klarer Erkenntnis der Dinge, Ziele und Aufgaben der kon-
sumgenossenschaftlichen Bewegung fordert der hervorragende
schweizerische Genossenschaftspionier an dieser und an anderen
Stellen seiner genossenschaftlichen Reden und Schriften, einerseits
Konsumvereine, welche autonom-lokale, familienhaft gegliederte
Wirtschaftsgemeinden darstellen, anderseits eine föderalistische
Gliederung der Vereine, eine Verbandsorganisation mit zentraler
Verwaltung als nationale Wirtschaftsgemeinde, beide aber sollen
durch «Verbreitung und Vertiefung genossenschaftlicher Bildung
und Erziehung» gekräftigt, veredelt und an «Haupt und Gliedern»
zum Vollbewusstsein der allgemeinen genossenschaftlichen Solida-
rität und Einheit erhoben werden. (Vergl. J. Fr. Schär, Genossen-
schaftliche Reden und Schriften, Bd. I. der «Pioniere und Theore-
tiker des Genossenschaftswesens», S. 86, 162.)

Organisatorisches und erzieherisches Problem der Siedelungsgenossenschaft «Freidorf».

10. Die Veranschaulichung und Darstellung dieser Solidarität und
Einheit in den verschiedenen Formen genossenschaftlichen Zu-
sammenwirkens und in engster Verbindung mit den Kräften, Mit-
teln und Wegen der konsumgenossenschaftlichen Gesamtbewegung
unseres Landes ist das organisatorische und erzieherische Problem
der Siedelungsgenossenschaft «Freidorf».

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oeffentlich/25jahre/leitsaetze_und_erziehungsprinzipien.txt · Zuletzt geändert: 2022/05/13 16:17 von pop

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