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oeffentlich:25jahre:aus_dem_geleitwort_zur_ersten_auflage

Aus dem Geleitwort der ersten Auflage

aus_dem_geleitwort_zur_ersten_auflage.pdf


Dem ehrenvollen Auftrag, zu vorliegendem Büchlein
über die Siedelungsgenossenschaft Freidorf ein Geleitwort
vorauszuschicken, komme ich um so lieber nach, als ich
auch das Glück habe, als Siedelungsgenosse im Freidorf
ein schönes Heim zu bewohnen, wo ich mein Wechsel- und
schicksalsreiches Leben zu beschliessen hoffe, ohne be-
fürchten zu müssen, dass Mietzinssteigerung und Kündi-
gung mich zum Umziehen nötigen.

Bedeutsam sind schon Ort und Zeit, wo die Idee vom
Freidorf wenn nicht geboren, so doch in greifbare Form
gebracht und der erste Schritt zu deren Verwirklichung
getan worden ist. An den Gestaden des an abwechslungs-
reichen Naturschönheiten unübertroffenen Vierwaldstätter
Sees, wo vor mehr als 600 Jahren die Schweizerische Eid-
genossenschaft gegründet und die erste Verfassung be-
schworen worden ist, liegt auch die Geburtsstätte der
Siedelungsgenossenschaft Freidorf. Auf das Osterfest 1919
reisten zwei Männer von Basel nach Weggis, dem be-
liebtesten Kurort an diesem See. Es waren Herr Dr. Rudolf
Kündig, Präsident des Aufsichtsrates des V.S.K., und Herr
alt Nationalrat Bernhard Jaeggi, seit 1899 Leiter und Orga-

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nisator des Verbandes, unter dessen Führung dieser einen
ungeahnten Aufschwung genommen hat. Herr Jaeggi kam
mit einem grossen Plan nach Weggis, in den der allzeit zu
rastloser Fortentwicklung des Verbandes geneigte Präsi-
dent Dr. R. Kündig eingeweiht war, einem Plane, den Herr
Jaeggi schon lange Zeit vorher gefasst und zu dessen Aus-
führung er die nötigen vorbereitenden Schritte getan hatte.
Es handelte sich nämlich um nichts Geringeres als um
eine Stiftung grossen Stils aus den Mitteln des Verbandes,
die er im Laufe der Jahre als stille Reserve angesammelt
hatte und nun nach erlassenen neuen Gesetzen entweder
an den Bund als Kriegsgewinnsteuer abführen sollte oder
vom Steuerpflichtigen selbst verwendet werden konnte für
einen der Allgemeinheit zugute kommenden Zweck, der
als solcher auch von der zuständigen Behörde anerkannt
ward. Das Projekt war: Stiftung zugunsten einer Siede-
lungsgenossenschaft. Der Landankauf war vorsorglich auf
definitive Zusagen hin gesichert. Der Zweck der steuer-
befreienden Stiftung von den Bundesbehörden im Prinzip
genehmigt, in Anbetracht der damaligen grossen Woh-
nungsnot in der Stadt Basel.

Es handelte sich also nur noch um eine Verfassung,
auf deren Grundlage nachher die Genossenschaft ge-
gründet werden sollte. Die beiden Männer haben während
der Osterfesttage im Ferienheim in Weggis diese Statuten
fertig entworfen. Herr Dr. Kündig war es, der den den
Charakter der Genossenschaft symbolisch andeutenden
Namen «Freidorf» vorschlug; neben dem im Mittelalter
gegründeten, schon im Namen die damaligen Kämpfe um
die politische und wirtschaftliche Freiheit andeutenden
«Freistadt», «Freiburg», «Freihof», haben wir nun auch

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noch ein «Freidorf»1), in dem die Siedler neben der ökono-
mischen auch die soziale, nur durch die Pflichten gegen
den Nächsten und die dienende Liebe zu den Mitmenschen
gebundene Freiheit geniessen sollen.

Und nun folgte Schlag auf Schlag alles Nötige zur
Verwirklichung des grossen Planes.

Und heute, nach 1 ¼ Jahr, ist Freidorf eine Muster-
kolonie von 150 Familien geworden; jede derselben hat
ein schönes, geräumiges, mit allem nach ihren Verhält-
nissen wünschbaren Komfort ausgestattetes Eigenheim,
mit Schmuckgärtchen vor dem Hause und einem grossen
Gemüsegarten hinter dem Hause, beide gegen die des
Nachbars durch Drahtgitter abgegrenzt. Da jede Familie
Vorgärtchen und Hauptgarten nach eigenem Geschmack
und auf eigene Kosten selbst gestalten kann, so entspinnt
sich unter den Siedlern ein edler Wetteifer in der Be-
pflanzung. Freidorf ist kein Platz für Müssiggänger.
Sichtbar ist der segensreiche Einfluss, den das freie, ge-
räumige Eigenheim, die glücklichere Verbindung zwischen
Bureau- oder Fabrikarbeit mit der Beschäftigung in der
freien Natur, der Sonnenschein und die frische Luft auf
Gesundheit und Gemüt jedes Siedlers ausüben. Und erst
die Kinder! Seht einmal die von der Sonne braun ge-
brannten, gesundheitstrotzenden Kinder jeder Altersstufe
an, wie sie spielen und sich tummeln im Garten, auf den
kleinen, mit Himbeersträuchern eingehegten Dorfwegen,
auf dem Dorfplatz mit dem plätschernden Brunnen, in den

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Unterrichtspausen auf dem grossen freien Spielplatz um das
Schulhaus! Ich möchte auch wieder ein Kind sein, um eine
solche fröhliche Jugendzeit zu erleben.

Alles in allem genommen, kann man jetzt schon fest-
stellen, dass mit Bezug auf die äussern Lebensbedingungen
die Siedelungsgenossenschaft den von den Gründern ge-
wollten Zweck erreicht hat. Aber der Freidorfgedanke geht
viel tiefer. Wir wollen erhalten und mit dem neuzeitlichen
Geist vermählen, was uns die früheren und die gegenwär-
tige Kulturperioden Gutes gebracht haben; wir wollen
aber auch zu verwirklichen suchen, was uns die führenden
Geister alter und neuer Zeit prophetisch gelehrt und vor-
gelebt haben. In bezug auf das erste Postulat gilt es vor
allem, die persönliche Freiheit gegenüber dem Staatszwang
und den Irrlehren der kulturmörderischen Gleichmacherei
aufrecht zu erhalten. Keine soziale Gemeinschaft ist
Selbstzweck, sondern im Gegensatz zu jeder Zwangs-
vereinigung nur ein Mittel, damit innerhalb der Gemein-
schaft jedes Glied seine Persönlichkeit frei entfalten kann.
Denn das wahre Glück kann ja nie von aussen kommen
oder von einer fremden Macht aufgezwungen werden;
jeder Mensch muss es sich nach seiner individualen Eigen-
art, die nach der Kulturstufe, nach der Erziehung, nach
der Geistesverfassung und Gemütsstimmung, nach der Ge-
samtheit der äussern Lebensverhältnisse differenziert ist,
selbst erschaffen. Dazu hat er aber die Mithilfe einer ge-
nossenschaftlich organisierten Gemeinschaft nötig; sie gibt
ein Vielfaches zurück, was das Mitglied ihr geleistet und
geopfert hat; sie hilft ihm zur wirtschaftlichen Ertüchti-
gung in seinem äussern Leben, gibt ihm Kraft und An-
regung zur sittlich-religiösen Erneuerung seines seelischen
Lebens, zur Niederkämpfung der Selbstsucht und des Ehr-

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geizes, der ärgsten Feinde jeder Genossenschaft. Daher ist
der wahre Genossenschafter auch ein wirtschaftlicher
Hausvater, ein guter Patriot und ein wahrhaft sittlicher
und religiöser Mensch.

Zum wahren Glück gehört aber auch die Befreiuung
aus jeglicher Knechtschaft. Auch hier ist der einzelne
Mensch auf die Mithilfe einer starken Genossenschaft an-
gewiesen; denn in seiner Isolierung vermag er nichts gegen
die starken Mächte, welche die Knechtschaft ausüben; nur
der einträchtige Zusammenschluss zu einer starken Genos-
senschaft aller derjenigen, die sich aus der Knechtschaft
befreien wollen, vermag den Kampf gegen diese Mächte
erfolgreich aufzunehmen.

Ja, Befreiung aus der Knechtschaft aller Art ist es,
was die Freidorfsiedler anstreben. Da ist zuerst die Be-
freiung aus der Knechtschaft der übervölkerten Städte.
Nach Rousseau’s prophetischem Weckruf: Zurück zur
Natur! streben wir hinaus aus der Stickluft der städtischen
Mietskaserne, von den asphaltierten oder gepflasterten
engen Gassen, wo die entschleierte Sünde frech ihr Un-
wesen treibt, hinaus aufs Land, wo Licht, Sonne und frische
Luft die bleichen Wangen röten, der Schwindsucht ihre
Opfer entzogen werden, wo auch die Zank- und die Streit-
sucht der in Mietskasernen gehäuften Bewohner durch
reinliche Scheidung der Heimstadt in nachbarliche Verträg-
lichkeit umgewandelt werden und der dienstwilligen Näch-
stenliebe die Herzenstüre öffnen.

Der Freidorfsiedler will sich auch frei machen von
der Knechtschaft, die von dem Privatbesitz auf Grund und
Boden, durch Spekulation in städtischem Baugrund und
Mietswucher ausgeübt wird. Die von den Physiokraten
des 18. Jahrhunderts ausgegangene, von den Pionieren der

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Freiland-Bewegung im Ausgang des 19. Jahrhunderts wie-
der neu aufgenommene und aufs eindringlichste als Grund-
bedingungen der sozialen Reform postulierte Lehre: Ver-
gesellschaftlichung der Grundrente — das ist in Freidorf
in vorbildlicher Weise verwirklicht. Denn nicht nur der
Grund und Boden, sondern auch die Häuser sind Eigentum
der Siedelungsgenossenschaft; damit ist auch die Speku-
lation zu privatem Nutzen an diesen Gütern ausgeschlos-
sen. Die von der Allgemeinheit bewirkte Steigerung der
Grundrente fällt der Siedelungsgenossenschaft zu.

Freidorf hat sich auch von der Knechtschaft des Pro-
fithandels frei gemacht. Was die redlichen Pioniere von
Rochdale vor 75 Jahren unter den ärmlichsten Verhält-
nissen begonnen und bis heute zu einer staunenswerten
Entwicklung gebracht haben, was uns seither die hervor-
ragendsten und weitsichtigsten Sozialreformer in Theorie
und Praxis gelehrt: Organisation der Konsumkraft, vorab
der Armen und Enterbten, in der Folge der gesamten Be-
völkerung, vereinigt in Gemeinden, diese in regionalen und
nationalen Verbänden als einzig mögliches Gegengewicht
und Mittel zur Überwindung des Kapitalismus, das ist im
Freidorf in bisher unerreichter Konzentration erreicht.

Indem Freidorf die Grundrente und die Profitrate des
entbehrlichen Zwischenhandels, diese zwei wesentlichen
Arten des arbeitslosen Einkommens, zugunsten der Siede-
lungsgenossenschaft expropriiert, hat es den Kapitalismus
an seiner empfindlichsten Stelle getroffen und damit auch
den erfolgreichen Kampf gegen die Knechtschaft, die der
schrankenlose Kapitalismus über die Menschheit gebracht
hat, erfolgreich aufgenommen. Da jeder Einsichtige sich
durch Augenschein überzeugt, dass das Kapital neben der
Arbeit und der Natur die grösste wirtschaftliche Macht ist,

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muss der Kampf gegen den Kapitalismus keineswegs auf
eine Vernichtung des Kapitals gerichtet werden, sondern es
muss vielmehr unter der Wahrung der persönlichen Frei-
heit ein Gegengewicht geschaffen werden, indem man dem
Kapitalismus die arbeitslosen Einkommen entzieht, aber
gleichzeitig ein genossenschaftliches Kapital gegenüber-
stellt, mit dessen Hilfe alle die der Allgemeinheit dienenden
Werke und Anstalten, Fabriken und Wohnhäuser gemein-
wirtschaftlich errichtet und betrieben werden können. Auf
diese Weise reissen wir dem Kapitalismus die Giftzähne
aus und zwingen die Macht des Kapitals in den Dienst der
Allgemeinheit. Freidorf geht diesen Weg. Aus genossen-
schaftlichem Kapital ist die Siedelung gebaut; Grundrente
und Handelsprofit sind dem Privatkapital entrissen. Und
nun gilt es, auch noch die wundersame Kraft in eine Orga-
nisation zusammenzufassen, die in kleinen und kleinsten
Ersparnissen liegt. Die Welt ist aus kleinsten Atomen auf-
gebaut; aus Atomen der Sparkraft der Massen entstehen
mit der Zeit Riesenkapitalien. Mit der Organisation dieser
atomisierten Sparkraft hat Freidorf einen mustergültigen
Anfang gemacht.

Und nun kommen wir zur letzten, aber wichtigsten und
schwierigsten Aufgabe, die sich Freidorf gestellt hat. «Was
hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne und
hätte der Liebe nicht? Er wäre ein tönendes Erz oder eine
klingende Schelle.» Gott bewahre uns vor einem Frei-
dorf, das nur behaglich dahinlebende Menschen und kalte
Egoisten beherbergte, denen das Wohl und Wehe des
Nachbars und der Welt jenseits der das Dorf umschliessen-
den Mauern gleichgültig ist! Das äussere Wohlbefinden
und das stille Familienglück, das er in der Siedelung ge-
niesst, soll nur die Grundlage, der Ausgangspunkt sein für

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eine innere, sittlich-religiöse Wandlung des Herzens und
Geistes. Freidorfs Kampf gilt daher der interessenlosen
Gleichgültigkeit gegen die Aussenwelt, der Selbstsucht mit
allen ihren hässlichen Auswüchsen. Unser Losungswort ist:
Selbstlose, aufopfernde und dienende Liebe zu Gott und
Menschen, zu Pflicht und Recht, zu Heimat und Vaterland,
die soll in jedem Siedler geweckt und entwickelt werden.

In den kleinsten Kreisen, in der Familie muss auch
das Feuer des echten genossenschaftlichen Geistes an-
gefacht und von hier aus auf die Gemeinschaft verbreitet
werden. Die Siedelungsgenossenschaft Freidorf soll eine
Vereinigung solcher Familien werden und ihren segens-
reichen Einfluss auf alle diejenigen Mitmenschen ausüben,
die zu uns kommen und sich überzeugen, dass Freidorf das
ist, was es im Sinne der hochherzigen Gründer sein soll,

«Eine Heimstätte der Nächstenliebe,
des Friedens und der Freiheit.»

Freidorf, den 28. Juni 1921.

Prof. Dr. J. Fr. Schär.

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1)
Ausser der Siedelungsgenossenschaft Freidorf finden wir noch ein Freidorf im Kanton Thurgau, Bezirk Arbon, Gemeinde Roggwil. Es ist ein kleines Dorf an der Strasse St. Gallen-Roggwil, mit 19 Häu- sern und 110 Einwohnern, die vorwiegend Landwirtschaft betreiben. H. F.
oeffentlich/25jahre/aus_dem_geleitwort_zur_ersten_auflage.txt · Zuletzt geändert: 2022/05/13 16:17 von pop

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